Milk of Lime – Chime

Milk of Lime – Chime

Berlin Fashion Week SS2026 – FÜRST

Bilder: Andreas Hofrichter

Text: Gerhard Paproth

 

Manchmal legt sich ein zarter Schleier wie eine poetische Verbrämung über das Kleidungsstück, manchmal wird Schwarz in seinen Schattierungsmöglichkeiten ausgespielt, akzentuierende Farben gibt es jedenfalls bei dieser Kollektion von Milk of Lime nicht (mehr) – die unbunte Farbigkeit nimmt sich selbst zurück. Bei den Formgestaltungen werden die Auflösungen des Ursprünglichen noch deutlicher: Dekonstruktivismus und Konstruktivismus sind für das Designerduo Julia Ballardt und Nico Verhaegen weiterhin entscheidendes Gestaltungsverfahren, unter anderem weil die Verbindung vom Klassischen (zum Beispiel Blazer) zum individuell Neuen (Blazer zerschnitten und neu zusammengesetzt) für sie so etwas wie unaffektierte Gegenwart repräsentiert. Sie haben neben dem Dekonstruktivismus viele Gestaltungsaspekte der vergangenen Dekaden beibehalten, die offenen Nähte, die herumschwingenden Bänder, das architektonische Schichten, starke Verschiebungen, Integration von Upcycling und vieles mehr und die damit verbundenen Möglichkeiten und Experimente faszinieren sie ganz offensichtlich. Stilistisch ergibt sich daraus oft ein Spiel zwischen Rauheit und Zartheit, strenger Eleganz und lockerer Freiheit und nicht selten auch die Verkehrung des Eigentlichen.

Insofern ist nichts von alledem neu, manches ist wie ein Gang durch die jüngste Modegeschichte und das Designerduo setzt darum auf das Besondere und Innovationen im persönlichen Experiment. Mit den körpernah geschnittenen Jacken bleibt jedoch die Verbindung zur Trägerin beziehungsweise zum Träger erhalten und die Experimente verselbständigen sich nicht. Das trägt ganz wesentlich zu dem eigenen Charme der Kollektion bei.

Charmant war auch die Inszenierung: die Gäste wurden auf ihren Stühlen durch die Verteilung eines Frühstückstischs auf dem Land begrüßt: Shownotizen, die als Zeitung, als mehrere kleine Markenkarten oder als ein Beutel Zucker getarnt waren. Dazu sanft schwingende Musik (Chime). Den pastoralen Touch, die Erforschung der ländlichen Ästhetik und natürlicher Materie, besonders aber Lyrik (siehe letztes Outfit) und Poesie, das Zarte und das Feine, vielleicht auch etwas Melancholie empfindet man in der Schau als die Essenz des eingangs erwähnten zarten Schleiers. „Wir brauchen Poesie in der Mode, weil die in letzter Zeit vergessen wurde.“ sagt Nico Verhaegen.

Die beiden Designer lernten sich bei ihrer Ausbildung in Belgien kennen. Wie wir schon an anderer Stelle einmal ausführten, ist die nicht trendorientiert oder popularitätsheischend, sondern darauf ausgerichtet, im Zeitgeist zu eigenem Verfahren und einer prägnanten Gestaltungsphilosophie zu finden, die dann den individuellen Style hervorbringen. Genau so machen es Milk of Lime, und weil das neben dem guten Handwerk (und ökologischem Bewußtsein) ein solides Konzept ist, kann man davon ausgehen, dass dieses Label nicht schon morgen wieder verschwunden sein wird.

Und zugegeben auch: ein wenig romantischer Esprit tut unserer Zeit sehr gut und es ist beruhigend, eine solche Position in überzeugender Weise auf der aktuellen Fashionweek zu finden.