Fashionweek Mailand Autumn Winter 2022/23
Text: Gerhard Paproth
Filme: aus dem Internet (Veranstalterseite + youtube)
Seit mit der Pandemie die digitalen Präsentationen auf den Fashionweeks zum essentiellen Bestandteil wurden, focussiert sich der Blick des Ästheten zunehmend auf die mediale Machart, wahrscheinlich mehr als bei Einkäufern. Der Filmclip konzentriert sein Konzept oft auf innovative Präsentationweisen, die in der experimentellen Machart einer zeitgenössischen Wahrnehmungsweise nahe kommen oder sie sogar antizipieren wollen. Gemeint sind nicht die Clips, die im TV-Format nur einen Catwalk abfilmen, also im Sinne einer Dokumentation – vielleicht an einen schöneren Ort verlegt als in einer Halle. Es geht um filmisches Denken zu einer Grundidee, die das Konkrete eher subsumiert. Der Gedanke, statt eines Produktes lieber seinen Lifstylezusammenhang vorzuführen, ist in der Werbeindustrie nichts Neues, war bisher aber bei klassischen Modeschauen höchstens ansatzweise einzubringen, beispielsweise mit der Offside-Location und der Begleitmusik. Der Filmclip kann die Wahrnehmung aber noch viel weiter und vielschichtiger anlegen, er kann sich sogar fast beliebig weit vom eigentlichen Produkt entfernen und die konnotative Leitidee der Mode-Gestaltung abstrahieren. Er kann, im besten Fall, einen ästhetischen Kosmos kreieren, der gestaltungsphilosophisch parallel zur Mode auftritt oder sogar reziprok stilprägend für die Kleidungsstücke werden kann.
Insofern, als die meisten Modeschauen ohnehin eher ästhetische Extreme vorführen, die den Geist des Gestaltens besser umreißen als dem Alltag oder Anlässen zugeordnete Tragebeispiele, geht der experimentelle Clip noch einen konsequenten Schritt weiter als die exzentrische Schau, wenn auch mit dem Risiko, den pragmatischen Rezipienten gar nicht mehr anzusprechen. Manchmal ist es bewundernswert, wenn ein Label dieses Risiko eingeht, denn ein markttechnischer, sprich kommerzieller Erfolg einer solchen Strategie dürfte nur äußerst vage abzuschätzen sein: sie dringt in künstlerische Sphären vor, welche im Prinzip jenseits von kommerziellen Erwartungen agieren, sie verlässt bewusst den klassischen Designauftrag. Das Vorgehen solcher ausgefallenen Filmkonzepte ist nur selten wirklich radikal, das Spiel zwischen konkreter Objektanschauung und ästhetischer Abstraktion hat ein großes Spektrum, in dem die meisten der Filmchen sich tummeln.
Allerdings ist Mut zum Radikalen selbst schon ein symbolischer Wert, der einem Modelabel oder -schöpfer einen positiven Nimbus verschaffen kann. Und man kann unterstellen, dass ein Modeschöpfer, der sich für ein innovativ-experimentelles Filmformat entscheidet, sein Modeschaffen in einem größeren künstlerischen, beziehungsweise kulturellen Kontext ansiedelt, als der klassische, kollektionsfocussierte Prêt-à-Porter-Designer.
Erfahrungsgemäß schaffen solche Gestalter sich mit ihren ausgefallenen Positionierungen in der Präsentation und ihrem Modedesign eher Kultgemeinden, überschaubar und abgrenzend, aber das muss nicht so bleiben, denn die Kultgemeinden bekommen manchmal auch Strahlkraft, wenn die Gestaltungsphilosophie zum Beispiel mit der allgemeinen Entwicklung des Zeitgeistes kongruenter wird. Wenn sie also im Sinne echter Avantgarde Zukunftspotential hat. Daran muss ein Label oder Modeschöpfer schon glauben, wenn es/er sich auf einen Experimentalclip mit seinen Modeideen einlässt (und das Geld dafür aufbringt).
Natürlich wollen die meisten Modehäuser zurück zu authentischen Liveshows, die Gründe sind vielfältig und berechtigt. Der Videoclip (und schon gar nicht der experimentelle) wird die Liveshows nicht ablösen. Er ist nicht authentisch, er ist nicht haptisch und er ist nicht exklusiv. Allerdings erweitert er das Feld der medialen Kommunikation durchaus konstruktiv und unter diesem Gesichtspunkt kann man die zeitweilige Verlegung der Modepräsentationen ins Internet auch als innovative Bereicherung betrachten, die – für sich genommen – hoffentlich auch fortgeführt wird.
Wir berichteten schon von faszinierenden Videobeispielen aus Berlin und Seoul, zur Modewoche in Mailand haben wir jetzt mal den Focus konzentriert auf den Aspekt der filmischen Machart gelegt und stellen Beispiele heraus, die wir für außerordentlich halten. Insgesamt muss man jedoch einräumen: die meisten (sich eher klassisch gebenden) Modemarken setzen im Film auf die üblichen Assoziationen und Verweise: Natur, Architektur(geschichte), Kunst(museen), urbanes Leben (z. B. Woolrich), Lifestyleobjekte (z. B. Skateboard bei PT Torino), bestenfalls etwas auf Mystik (z. B. Kapoor). Gelegentlich ein paar Bearbeitungsexperimente oder ein symbolisierender Handlungsrahmen (wo noch mehr erlaubt ist) werden von den Modehäusern zugelassen. Ein wenig Pepp im Geschäft – eher vorsichtig als herausfordernd.
Die Soundtracks, immerhin, bekommen dagegen deutlich mehr Freiräume, auch in konventionelleren Clips, hier kann der Filmemacher noch Schrägheiten einsetzen, die sein Auftraggeber der visuellen Filmgestaltung nicht zugestehen würde.
Hinsichtlich experimentellen Filmemachens für Mode sind diese drei Clips unsere Favoriten zur Fashionweek Milano aw 2022/23:
Vìen (Dir.: Samuele Mastrangelo & Marcello Nardone):
https://milanofashionweek.cameramoda.it/en/brands/vien-runway/
YOUTUBE: https://www.youtube.com/watch?v=7dEykLUvm3Y
Han Kjøbenhavn (Dir.: Jannik Wikkelso Davidsen):
https://milanofashionweek.cameramoda.it/en/brands/han-kjobenhavn-runway/
YOUTUBE: https://www.youtube.com/watch?v=ioZyXNyXHiY
Revenant RV NT „FASHION NIGTHMARE – The Night Before the Show | Featuring BRANDO CHIESA“ (Dir.:Vittoria Becchetti Tommasobf):
https://milanofashionweek.cameramoda.it/en/brands/revenant-rv-nt-runway/
YOUTUBE: https://www.youtube.com/watch?v=ilP9VjEsUcw
Wegen bemerkenswerter Besonderheiten finden wir auch diese Videos sehenswert:
Experimentelle Musik: Kiton (Dir.: nicht angegeben):
https://milanofashionweek.cameramoda.it/en/brands/kiton-runway/
YOUTUBE: https://www.youtube.com/watch?v=2FoLmmzdSMM
Bizarre Handlung: ÇANAKU (Dir.: nicht angegeben):
https://milanofashionweek.cameramoda.it/en/brands/canaku-runway/
YOUTUBE: https://www.youtube.com/watch?v=cb2ZRI2kr3Y
Formal interessant geschnittener Catwalk: APN73 „A Personal Note“ (Dir:. 47jasper):
https://milanofashionweek.cameramoda.it/en/brands/apn73-a-personal-note-73-runway/
YOUTUBE: https://www.youtube.com/watch?v=zZBfSIEzLWU
Figuren und montierte Welten: MTL-STUDIO (Art Dir.: Roberto Zampiero):
https://milanofashionweek.cameramoda.it/en/brands/mtlstudio-runway/
YOUTUBE: https://www.youtube.com/watch?v=bINlW6RmQ2s
Freestyle Radakrobatik: Children Of The Discordance (Dir.: Keita Suzuki/Hideaki Shikama) „Reason“:
https://milanofashionweek.cameramoda.it/en/brands/children-of-the-discordance-runway/
YOUTUBE: https://www.youtube.com/watch?v=gOVd8JkUCQQ
Fotografie mit Filtern, Effekten und Smartphoneästhetik: MSGM (Luke Abby):
https://milanofashionweek.cameramoda.it/en/brands/msgm-runway/
YOUTUBE: https://www.youtube.com/watch?v=0JMqmiP0_NU
Alle Präsentationen findet man hier:
https://milanofashionweek.cameramoda.it/en/calendars/2022-01-18/
Die Vorschaubilder wurden auch von dieser Milanofashionweekseite (s. Link oben) übernommen.
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