Märchen, Fischer, Tatoos, Kimonos, Düstermänner und andere Leitbilder
Bilder und Text: Gerhard Paproth
Das Spektrum der Gestaltungsansätze ist wie immer groß und reicht von jugendkulturellen Grundstimmungen bis hin zu träumerisch-romantischen Textilarchitekturen. Auch verschiedene kulturelle Backgrounds der Modegestalter aus verschiedensten Ecken der Welt bereichern das Panorama der Gestaltungsphilosophien, ganauso wie die verschieden gerichteten Ausbildungsorientierungen, die grundsätzlich und gerade bei den vorwiegend frischen Absolventen deutlich sichtbar bleiben. Ebenso reizvoll ist die Verschmelzung von nationalen Mentalitäten und internationalem Zeitgeist, sowohl bei jedem Einzelnen als auch im gesamten Spektrum der zehn Beispiele. Wir versuchen, die verschiedenen Konzepte näher zu erkunden (manchmal nur aus dem Gesehenen heraus, manchmal mit Hilfe der Erläuterungen ihrer Protagonisten):
Tetsuya Doi, Yota Anazawa & Manami Toda (Japan) – „Polomani“ (MENTION SPÉCIALE DU JURY MODE):
Im Gespräch schichtet das gut gelaunte und kommunikationsfreudige Trio aus Japan die Auskünfte zu seinem Gestaltungsanliegen ähnlich wie das Erscheinungsbild seiner Modekombinationen aus unzähligen Aspekten und Anliegen zusammen, schnell, frisch und rasant und das in kompliziertem Japan-Englisch. Sie beziehen ihre Ansätze aus den 90ern, besonders aber aus japanischer Schnittkultur, berufen sich auf Kimonos, Sustainability und Handarbeit. Die waghalsige Schichtung der Schnitte und Silhouetten ist unabhängig vom Körper und bildet eine eigene Architekturgestalt. Kontrastierende Stoffe, Farben und Muster folgen dem gleichen Prizip, wobei eben spannend ist, dass die klassische japanische Kimonokultur stets den Kern des Denkens ausmacht.
Tsung-Chien Tang (Taiwan) – „Sleepwalker“:
Einerseits ist Tsung-Chien verliebt in luxuriöse Textiloberflächen aus handwerklich perfektionistischer Fabrikation, andererseits pflegt er eine Aversion gegen Perfektion eines Ganzheitlichen. Daraus entstehen asymmetrische, übertriebene und dekonstruktivistische Stücke, zusammengefügt aus Dutzenden von Möbelstoffen. Ergänzt mit Brokat, Organza und Kristallen entwickelt der Jungdesigner aus dem seltsamen Patchwork eine Mischung aus Romantik und Exzentrik, die obendrein noch mit asiatisch-historisierenden Stilismen versetzt ist. Das Gestaltungsprinzip setzt sich sogar in der Fußbekleidung fort, die, handgemacht, entsprechend opulent und bizarr das Erscheinungsbild komplettiert.
Dita Enikova (Littauen) – „Avoiding The Void“:
Hinter der Kollektion steht die Forschung zu nordischer (Kleidungs)kultur, genauer der Arbeitskleidung von Fischern – grau und introvertiert, eher abweisend und sich dem urbanen, ruhelosen Leben widersetzend. Die Designerin erzählt, dass sie sich monatelang in den entlegenen, eher unwirtlichen Gegenden aufgehalten hat und ihr Leben dort nun in eine allgemeines Gestaltungs-Konzept zu überführen sucht. Dabei sind keineswegs nur grobe Gummischürzen und -kapuzen aus Leder, Wolle, Gummi, Latex und wetterfesten Materialien entstanden, sondern es wurden auch sehr filigrane Naturbestandteile wie Federn eingebracht und reizvolle Oberflächenstrukturen zusammen gefügt. Intensives Blau und scharfe Schwarz-Weiß-Kontraste sowie lockere Teile-Kombinationen geben den komplizierten Konstruktionen Lebendigkeit und durchbrechen die Introvertiertheit kontrastierend.
Lucille Thièvre (Frankreich) – „Les Esplaces 19120“:
Eine nach eigenen Worten „elegante, aber auch sehr eigenwillige“ Kollektion zeigt Lucille Thièvre, die sich nach der Arbeit in verschiedenen Modehäusern nun selbständig gemacht hat. Sie läßt sich von der Mode der 80er Jahre inspirieren, elastische Stoffe, knapp sitzend und Haut zeigend. Damit sind ihre Sachen bewusst körperbetonend und beweglich. Vieles ist gerafft und der betont knappe Sitz erfordert Maßschneiderung auf den betreffenden Körper. Zusätze kunsthandwerklicher Art bereichern das Konzept und geben weitere vitale Akzente. Sexyness ist ein eher wenig vertretener Aspekt des jungen Modedesigns und wenn, wird sie am ehesten von französischen Vertretern/Vertreterinnen propagiert. Ganz tot ist Eleganz noch nicht da hat die Modestadt Paris noch ein Ass im Ärmel.
Tina Schwizgebel-Wang (Schweiz) – „Inked“ (PRIX CHLOÉ):
Die Schweizerin Tina Schwizgebel ist passionierte Tatooliebhaberin (auf einer Berlinreise hat sie das Handwerk dafür erlernt) und versucht, ihre Liebe dazu in Kleidung zu transferieren. Ausgebildet an Modeschulen in Lausanne und Genf bringt sie die Voraussetzungen dafür mit. Dabei geht sie sogar in drei entsprechenden Etappenkategorien der Entwicklung ihrer Outfits vor, nämlich mit 1. dem Motiv als Stoffprint, 2. recyceltem Pelz, rasiert wie vor dem Tätowieren die Haut und 3. Plastik, das das Cellophan zum Schutz des fertigen Tatoos repräsentiert. Gleichzeitig – vielleicht geschmacklich auch aus Berlin mitgebracht – trägt das Erscheinungsbild der Kollektion einen Touch von Punk und Gothic, der aber hinter der Feinheit der großflächigen Musterung eher zurücktritt. In rätselhaftem Kontrast dazu stehen die platten Sandalen und Strandlatschen auf der Schau, denn die sind weder Punk, noch elegant, noch tatooszenig.
Christoph Rumpf (Austria) – „Sans Titre“ (GRAND PRIX DU JURY PREMIÈRE VISION):
Der Designer erzählt, dass hinter der Kollektion eine Geschichte steht, in der es um einen Jungen geht, der im Dschungel aufwächst, alleine ist und sein Leben lang kämpfen muss – und der, zurück bei den Menschen realisiert, dass er ein Prinz ist. Märchenfiktionen und besonders Fantasie haben also die Erscheinungsbilder der Kollektion geprägt, mit übertriebenen Größen, fantastisch prachtvollen Brokatstoffen und Goldprints sowie romatisierenden Uniformen. Und auch hier findet das Schuhwerk seine gestalterische Fortsetzung im Sinne einer ganzheitlichen Kreation.
Die sorgfältige Verarbeitung, die gekonnte Zusammenstellung und hochwertige Textilien distanzieren die Outfits gleichwohl von theaterkostümhaftem Auftritt. Der Österreicher engagiert sich darüber hinaus für nachhaltige Mode, er verwendet recycelte Stoffe (inklusive alte Teppiche unf Gardinen), die er oft auf Flohmärkten auftreibt.
Das Anliegen, den Träumen und Sehnsüchten des Menschen, in dessen Erwachsensein das Kindliche ja nur zwanghaft zurückgedrängt ist, wieder einen Platz im Designgetriebe zu geben, erhält sehr viel sympathisierendes Feedback. Anders gesehen betonen die Entwürfe den Kontrast zwischen praktischer Schutzfunktion und dem gesellschaftlichen Zeichen einer Rollenzuweisung bzw. einem Schönheitsideal. Insofern enthält diese Kollektion auch einen philosophischen Gedanken zur Mode und gewann wohl nicht von ungefähr den großen ersten Preis.
Milla Lintilä (Finnland) – „Metadance“ (KOLLEKTIONSGESTALTUNG FÜR GALERIES LAFAYETTE):
Mit Unterstützung von Ghioldi, Luxury Jersey, Sfate & Combier, Guigou – Première Vision Paris Puntoseta and Swarovski entstand die eher bodenständig erscheinende Kollektion, die schon nahe an Prêt-a-Porter-Design heranrückt. Das Interesse der Designerin an ausgefeilten Webverfahren und schöner Textur in Kombination mit Farbstreifen, die zum Teil etwas ungewöhnlichen Schnitten folgen führt zu einer eher „stillen“ Raffinesse in bunter, aber eben auch zurückgenommener matter Farbgebung. Die in Paris ansässige Finnin versucht lässigen Tragekomfort mit kleinen sexy Akzentuierungen zu versehen, die aber auch eher schlicht als extravagant auftreten. Unaufdringlicher Luxus.
Emilia Kuurila (Finnland) – „Taped on the Skin AW19“:
Nicht ganz so körpernah, wie der Titel der Kollektion suggeriert, sind die aktuellen Entwürfe von Emilia Kuurila konzipiert, aber die menschliche Gestalt spielt durchaus die entscheidende Rolle. Mit eleganten,, schimmernden Stoffen wie Seide, kräftigen Farben wie Rot, Gelborange und Azurblau und vor allem Streifen als Richtungsakzentuierungen und -spiele hat sie eine Herrenkollektion vorgestellt, die stellenweise recht elegant daherkommt. Besonders eindrucksvoll sind dabei die vielen kunstfertigen Fältelungen, Säume und flachen, eher feinen Schichtungen, die eine komplexe Oberfläche herstellen und den großen monochromen Flächen lebendige, offene und interessante Strukturen verleihen. Roh bleibende Schnittkanten verhindern übermäßige Glattheit. Die Silhouetten und Schnitte zeigen diverse Ansätze, vom kontraststarken Kurze-Hosen-Anzug mit transparentem Cape über kreuzquer gestreifter Hemd-Hose-Kombination bis zum vollständigen Anzug in fast klassischem Schnitt. Bei letzterem erscheint die komplexe Verarbeitung dann auch am raffiniertesten, auch wenn die monochrome Kombination mit dem Hemd da nicht die überzeugendste Entscheidung sein mag. Sie bewirkt einen Touch von „zu viel“, folgt aber immerhin dem Titel konsequent.
Róisin Pierce (Irland) – „Mna I Bhlàth (Women in Bloom)“ (PRIX DU PUBLIC, VILLE D’HYÈRES und PRIX DES MÈTIERS D’ART BY CHANEL):
Ohne klassische ästhetische Grundlagen zu verlassen oder zu negieren, versucht Róisín Pierce experimentelle Erweiterungen. Dies beginnt bei den Silhouetten und setzt sich fort in der Behandlung und Manipulation von Textilien und Schnitten. Sie versucht, experimentell auf der Basis des Begriffes Schönheit Herkömmliches mit Innovativem zu verschmelzen und dabei überraschende Erscheinungsbilder zu kreieren, wobei mit dem monochromen Weiß die Hauptaufmerksamkeit auf die differenzierend gestalteten Oberflächen geführt wird, die wie Skulpturen oder Reliefs ein veredelndes Eigenleben entwickeln. Das erstreckt sich sogar bis hin zum Schuhwerk, das hier feiner und eleganter daherkommt als bei den Konkurrenten/innen. Eine etwas spielerische Romantik scheint bei allem durch, man denkt zum Beispiel an Hochzeitskleider, trotzdem setzt die Designerin damit einen auffälligen Akzent im Getriebe der Jungen, der den Fine Gout nicht aufgeben will. Der Preis von Chanel und der Publikumspreis überraschen darum auch nicht besonders.
Yana Monk (Russland) – „Amderma“:
Die Designerin setzt deutlich auf jugendkulturelle Bewegungen und auf darin erscheinende düstere Stimmungen. Einschließende, verbergende Kapuzen, wallende, bodenlange Kutten, skulpturale, körperüberwindende Verformungen bestimmen die Erscheinungsbilder der Männerkleidung, ergänzt mit Bändern oder großen Überlappungen. Vorwiegend monochrome Grautöne unterstreichen das Mystische – oft allerdings eher heller als ganz dunkel.
Trotzdem bleibt stets etwas Haut sichtbar, wie eine Öffnung in der Abschottung.