Berlin, MBFW AW2021, Kraftwerk Digitalübertragung
Text: Gerhard Paproth
Bilder: bereitgestellt vom Presseservice
Die Entscheidung, mit dem Hauptpreis-Gewinner des Modefestivals von Hyères die Fashionweekschauen zu eröffnen, ist wie schon in den Saisons zuvor eine kluge Markierung zum State of the Art. Und es wird auch offenkundig, was die dortige, hochkompetente Festival-Jury als avantgardistisch einstuft: Spass an Modegestaltung steht an erster Stelle, zeitgemäßes Schaffensbewusstsein muss dahinter als Basic deutlich erkennbar sein. Damit liegt die Messlatte eine entscheidende Stufe höher als beim ideologischen Nachhaltigkeits-Konzept plus dekonstruktivistischer oder konstruktivistischer Gestaltung allein.
Auffällig ist, dass die Entscheidungen in Hyères geprägt sind von Freude an exessiver, optimistischer und lebensfroher Gestaltung, die auch vom dortigen Publikum geliebt und gefeiert wird. Insofern verwundert es nicht, dass Tom van der Borght aus Belgien ähnlich wie Botter + Herrebrugh zuvor der große „Abräumer“ des letzten, 35ten Wettbewerbes 2020 war.
Van der Borght kommt in seinem Werdegang eigentlich aus der Bildenden Kunst und aus dem Performancebereich und sieht in Mode eine mögliche Realisations- und Präsentationsform, seine vielschichtigen Expressions- und Experimentalgelüste in die Öffentlichkeit zu bringen. Die treibt er weitestgehend auf die Spitze. Wir sehen ein Füllhorn an Ideen, üppig, farbenfroh, detailverliebt, rasant und funkelnd, ohne Angst vor Kitsch (nie war mehr Lametta …), Plastik (recycled) oder Klischees (Schamanen, Afro-Kultur).
„Jeder kann es tragen“ sagt der Künstler im Interview, doch wörtlich genommen ist das natürlich eine Überforderung und würde sogar beim Karneval exzentrisch herausstechen. Aber es geht hier eben nicht um praktische Alltagstauglichkeit, sondern um „Lifestyle“, der die Gestaltungsmotivation prägt: frei, die unendlichen Möglichkeiten erkennend und nutzend, emanzipiert, lebensfroh und -offen, gegenwärtig und utopistisch – und dabei gleichzeitig perfektionistisch in der Verarbeitung, höchst umweltbewußt mit viel Recycling und Mode konsequent als Lebensart begreifend. Das ist das Statement dieses Designers und es reicht darüber hinaus in gesellschaftliches Bewusstsein hinein. Die Schau versteht sich auch als Performance, das Individuum wird getragen von (den) anderen, Selbstäußerung formuliert sich als geschlechtsneutral oder auch nicht, der eigene Beitrag soll das Ganze positiv bereichern.
Insofern liefert Tom van der Borght eine veranschaulichende Idee gesellschaftsbewußten Modeverständnisses und setzt über das Nachhaltigkeitsbewußtsein hinaus die wesentlichen Akzente der Gestaltungsfreude: die springt einen sehr unmittelbar und offensiv an. Eine laute Herausforderung für die ästhetische Tristesse, Befangenheit, ideologische Überfrachtung und gestalterisches Understatement, dem viele Newcomer und kommerzbewusste Designer leider anhängen.