MBFW aw 22, die Platte.Berlin, Memhardstrasse
Bilder: Andreas Hofrichter
Text: Gerhard Paproth
Inklusion, Nachhaltigkeit, Innovation und Transparenz sind die zentralen Schlagworte, mit denen die PLATTE.Berlin angetreten ist – zuerst liest sich das wie halbhohle Werbeformeln aus dem Generationen-Sprech, aber schon vor und während der Veranstaltung kann man erkennen, dass dahinter echte Haltung und echte Bemühung stehen, sich in laute, sichtbare Form zu gießen. Vom Veranstalter und vom Publikum. Die Veranstaltung „Platte-Look“ nahe dem Alexanderplatz in und vor einem DDR-Plattenbau ist organisiert wie ihr Inhalt. Bewusst nicht perfekt, dafür aber mit viel Spass. Und das Publikum der fast in den Öffentlichen Raum reichenden Schau passt offenkundig zum spezifischen Modestatement und kommt genau deswegen. Also eher nicht das gesuchte, zahlungsfähige oder prominente Segment der „gehobenen“ Modeszene, sondern eine Spaßfraktion, die sich selber feiert. In London sind diese exzentrischen Groups und diese Szene besonders auf der Fashionweek gang und gäbe, hier in Berlin aber selten sichtbar, auch wenn man glauben könnte, Berlin sei der logische Ort dafür.
Lebensfreude, Lust auf Verwandlung, Spass an schreienden Farbkaskaden und -mustern, Freude am Anderen sind erkennbare Charakteristika der Bewegung. Es ist ein Statement sozialer Haltung mit gegenseitigem Ansporn und Beifall, ohne Ansehen von Herkunft oder Zahlungskraft. Kreativität ist das verbindende Element im deutlich Sichtbaren, Anstrengung, Mut und Abgefahrenheit gehören zum Potenzial der Aktivität. Man sieht – schon vor der Schau im Publikum – die liebevolle Herrichtung in den Details und die Exzentrik verwendeter Trouvaillen in den Zusammenstellungen der auffälligen Outfits. Und eine sehr große Vielfalt an Akzentuierung zeigt sich dann in der repräsentativen Schau: Punk-Heritage, sexueller Fetisch, Gothic-Fantasy, handwerkliche Individualkreativität, Rüschenromantik und vieles mehr stehen gleichberechtigt nebeneinander und auch die vorführenden Modelle entsprechen möglichst großer, individualgeprägter Vielfalt.
Das ist, als grundlegende und herausgestellte Haltung, ehrlich und sehr beeindruckend und darum unterstützenswert. Denn es ist definitiv Lust an gelebter und identitätsspiegelnder (oder -stiftender) Mode, einem Modeverständnis, das nicht leer und nur ein ästhetisches Statement sein will, sondern selbst kreativ ist und starker Ausdruck eines Lebensgefühls, einer (humanen) Verortung jenseits des Mainstreams. Aus diesem Verständnis relativiert sich die ästhetische Kategorie als relevanter Maßstab. Die Gestaltung ist schierer Expressionismus. Und die Vorführung etabliert charismatische Qualitäten. Just das, was den herkömmlichen Laufstegmodellen eher abgesprochen wird.
All das hat noch den Beigeschmack von Punk, ist vielleicht eine erweiterte Post-Punk-Bewegung: die gezielte ästhetische Rücksichtslosigkeit, die Provokation mit Schrillem und die Verachtung der Konventionen sind Versuche, eigene Lebensräume zu schaffen und eigene Konsensbereiche zu etablieren. Dazu gehört nicht nur Mut, sondern auch viel Anstrengung und radikale Konsequenz, was sich beispielsweise in den sexuell aufgeladenen Outfits zeigt. Letzteres fehlte ja der Punkbewegung seinerzeit und die Verschiedenheit beider Strömungen (Fetisch-Erotik und Punk) gehen nun eine überzeugende und inkludierende Verschmelzung ein. Beispielsweise. Und insofern bleiben die eingangs zitierten Werbeformeln nicht hohl und „modisch“ sondern finden reale Konkretisierung statt vorsichtiger Annäherung an Überzeugungstrends.
Im realen Leben tragbar oder nicht, die Frage stellt sich mit diesen gewagten Outfits eher weniger. Denn die Szene hat da wenig Berührungsängste. So scheint es jedenfalls.
Damit stellt sich eine exzentrische Bewegung mit radikal eigenem Modeverständnis neben die etablierten Werte aus dem Schauengetriebe der Fashionweek(s), sperrig gegenüber Beurteilungskriterien des Mainstream aber mit einer eigenen Überzeugungskraft, die wichtige und überzeugende humane Qualitäten hat und deutlich auf Aspekte verweist, die in eben jenem Modegetriebe untergegangen sind oder unterzugehen drohen. Der offenkundige, lebensfrohe Spass ist nur einer davon.
Die Schau zeigte einen Mix verschiedener Designer/Designerinnen und Labels ohne jeweils ausgewiesen zu sein. Dazu gehörten: 7585 – #Damur – Auf Augenhöhe – Dennis Chuenne Fade Out Label – Haram – Isabella Rudzki – Joulala – Bondy – Khassel – Kolo – Leinz – Lettau – Lu La Loop – Luise Zücker – Mies Nobis – Ministry of Upcycling – MYL Berlin – Perlensau – Sample-CM – Starstyling – Susumu Ai – Tata Christiane – Therapy Recycle and Exorcise – Trippen – UY – Versuchskind – W1P