Berlin Fashion Week AW2024 – Kulturforum Gemäldegalerie
Bilder: Andreas Hofrichter
Text: Gerhard Paproth
Und wieder bietet Namilia die lockerste und hedonistischste Schau der Welt und zieht in Berlin auch das wohl coolste Publikum an. Gleichzeitig, so hat man jedenfalls den Eindruck, zielt nicht mehr alles auf das queer gesonnene Club-Publikum der Hauptstadt, nicht mehr jedes Stück ist konsequent auf humorvolle und erotische Provokation angelegt.
Das dämpft die Radikalität des bekannten Entwurfskosmos‘ ein wenig. Trotzdem sind das eher keine Zugeständnisse, denn die Leitlinie des Designerduos wird nicht verlassen, alle Outfits sind noch der offensiven Wirkung verpflichtet, wenn auch nicht mehr ganz so detailverliebt und so innovativ wie zuvor. Während die Schauen der vorangegangenen Saisons noch geradezu verschwenderisch mit originellen Ideen daher kamen, finden sich jetzt viele Neuauflagen davon und auch die eine oder andere leicht variierte Wiederholung. Die Mittel werden noch mal verstärkt oder übertrieben. Der kreative Esprit bestimmt die Kollektion noch immer entschieden genug, um diversen Nachahmungen anderer Designer eine gehörige Länge voraus zu sein und genügend neue Experimente vorführen zu können. So zum Beispiel die weit ausufernden, bodenlangen Röcke für Männer und Frauenkleider, angelegt wie riesige Abendkleider, nicht selten mit Schleppe, helmartiger Kopfputz, neu gedachter „Tarnfleck“ oder „Naturmuster“, erotisch zugespitzter Barbie-Style oder knappe, aber originelle neue Abdeckungen bei Nacktheit. Hinsichtlich der Bequemlichkeit, die vielleicht mit dem Clubauftritt gefordert ist, erscheinen jetzt mit den ausufernden (Reif-)Röcken beziehungsweise Kleidern, den großen Mänteln und den eher unpraktischen Kopfbedeckungen auch gestalterisch sperrige Positionen, die aber wohl besonders zwingend die Blicke auf sich ziehen sollen und neben der sexy Sparsamkeit auch das überbordend Üppige feiern sollen. Die hedonistische Grundhaltung wird im Nebeneinander nicht aufgegeben.
Die Farbe Pink – meist kombiniert mit Schwarz – ist dominant vertreten und die frechen Schlampen-Sprüche werden oft mit Aufmerksamkeits-Gelüste ergänzt (FAME BITCH). Das steht für den wunderbaren, klugen und hintergründigen Humor der Selbstbespiegelung, der die hedonistische Haltung so attraktiv und überzeugend macht. Er entkräftet das Billige und stärkt das Sinnliche. Besonders reizvoll ist auch die Pointierung der sexuellen Kräfte, sowohl geschlechtsspezifiziert und dennoch nach dem Motto Alles für Alle. Darin liegt die besondere Kunst bei Namilia, die die Designer so souverän und zugleich spielerisch beherrschen wie kein anderes Label. Hinzu tritt die freche, unverschämte Übertreibung, die, ohne das zu betonen, mit einem gewissen Augenzwinkern formuliert ist. Hierin liegt der eigentliche Kern der kreativen Gestaltung, der zugleich ermutigt, sich auf die Gestaltungssprache einzulassen und der den eigentlichen Sympathiefaktor ausmacht.
Das Unaggressive der Offensiven, der heftigen Angriffe aufs Moralische ist ebenfalls eine entscheidende Grundlage der Haltung. Insofern ist Namilia vielleicht auch ein pädagogisches Programm, dessen Wirkung auch im Publikum ablesbar ist. Da sieht man die Hardcore-Fans in ihrem vollen Ornat queerer Erotik neben den sympatisierenden Durchschnittsjugendlichen, alle von der philosophischen Grundlinie des Namilia-Designs begeistert.
Das, was als sehr äußere Gestaltkennzeichnung den Namilia-Style am simpelsten ausmacht und mittlerweile häufig in Kollektionen anderer Designer aufgegriffen ist, nämlich die hochgezogenen Schultern auf Flügelforn, findet sich in dieser Kollektion kaum noch. Die Schultern sind jetzt noch breiter, aber nicht mehr hoch gezogen und der Thierry-Mugler-Effekt wird mit Übertreibung noch einmal neu ausgespielt. Jedenfalls haben die Designer dieses „Markenzeichen“ schon wieder aufgesteckt und setzen auf ihren Style allgemein. Das exzentrische Pulver ist sicher noch nicht verschossen.
Das Publikum sorgt schon für eine eigene Schau-Atmosphäre grundvergnügter Betrachtung und erotisierter Spannung. Die Models wirken wie aus dem Leben gegriffen und marschieren angenehmerweise auch recht individuell über den Laufsteg, das sorgt sehr passend für reduzierte Distanz und hat sympathisierenden Effekt. Dass die Veranstalter allerdings den Filmer zulassen, der auf dem Laufsteg vor, hinter und neben den Models filmend mitläuft, hat laut zu berechtigten Unmutsäußerungen aus dem Publikum geführt, in der Hinsicht sind lockere Präsentationsformen dann doch eher kontraproduktiv.