Messe Neonyt – Die 20er – eine neue Dekade – was erwarten wir und was wird sein?
Text & Bilder: Boris Marberg
Auf dem Flughafengelände Tempelhof fand im Januar im Rahmen der Berliner Modewoche die Messe Neonyt statt. Ausgerichtet auf ökologische Mode wurden, neben einer im Kraftwerk präsentierten Schau, viele kleine Veranstaltungen platziert, die sich um den gesamten Bereich von „nachhaltiger Mode“ drehten. Als erste Messe zu dieser Thematik in Deutschland in diesem neuen Jahrzehnt wollen wir eine Reihe zentraler Fragen in den Raum stellen und uns schrittweise möglichen Antworten annähern – was erwarten wir in diesem Jahrzehnt von Mode in unserer Gesellschaft?
Die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts haben begonnen (auch wenn über die Zählweise teilweise gestritten wird) – eine neue Dekade steht an – nicht nur von der Zählweise, sondern von einem generellen Wandel der Ausrichtung von Wertebilder und Strömungen. Das vergangene Jahr und auch Jahrzehnt hat einige grundlegende Sichtweisen und Ereignisse hervorgebracht, die einen Wandel in die Wege geleitet haben, Fragen aufgeworfen haben und Bewegungen initiierten.
Politisch war zu beobachten, dass zum Beispiel sich Populismus sich breit etabliert hat und ein Spannungsfeld von Trennung und Integration in Europa bildete. Wirtschaftlich zeichneten sich die letzten Jahre durch ambivalente Entwicklungen aus. Produkte und Innovationen haben die Gesellschaft geprägt und verändert, wie man sich das vor zehn Jahren nicht hätte vorstellen können. Das Mobiltelefon in seiner ausgereiften Funktionalität ist zu einem prägenden Gegenstand von Milliarden von Menschen geworden und hat eine ganze Generation verschluckt und den Sprachgebrauch und die Art zu kommunizieren nachhaltig verändert. Ideologisch wurde das Individuum zum Konsumgut stilisiert und alles in einen kommerziellen Kontext gestellt, wie seit den 1980er Jahren nicht, einhergehend mit Konservatismen die auch von großen Teilen der Jugend getragen werden. Das Bewusstsein für „Gender“ hat sich weiter ausgeprägt, während der Feminismus eine komplette Generation junger Frauen verloren habe und auf der Stelle träte. Die letzten 10 Jahre waren durch große Designer geprägt, die gegangen sind und Lücken hinterlassen. Schnelle Mode breitet sich aus, mit immer mehr Kollektionen in Wochenrhythmen, zum Verbrauchen, in internationalen Konzernen für die Masse gemacht, zu unerträglichen Arbeitsbedingungen. Brennende und einstürzende Fabriken mit Hunderten von Toten und endlosem Leid und breiter Perspektivlosigkeit. Eine Perspektivlosigkeit, die sich in ungehemmtem Konsum zeigte und nach Überwindung schreit. Programmiert war die große Krise der Modeindustrie, die dann auch heute noch vielleicht nicht groß genug scheint.
Wurden unsere Erwartungen, nach Ausdruck, Sinnhaftigkeit und Entwicklung in den letzten Jahren erfüllt, oder nur Leere zelebriert? Eine ambivalente Jugend schreit nach Veränderung, polarisiert, bewirkt indes nur wenig – zum Beispiel an Freitagen, oder auch mal unter der Woche. Steine fliegen keine, vielleicht virtuelle – Hass und Spott im Netz. Die Körperlichkeit und das Bewusstsein für die eigene Sexualität haben sich durch das Smartphone und die allumfassende ungehemmte Verfügbarkeit von Pornographie verändert – „Sex sells“. Kommunikation reduziert sich, Schrift wandelt sich zu neuen Hieroglyphen auf dem Display – Satzfragmente werden per App ausgetauscht. Was will man heute noch mit Mode ausdrücken? Vielleicht die Zugehörigkeit zur Masse in der Illusion des Individuums? Wer zappelt bekommt eine Pille, die meisten jedenfalls, andere brechen aus wollen andere Wege gehen. Hatten wir alles schon. Die 1990er – noch radikal im kommunikativen Aufbruch, meist reduziert und dunkel gekleidet, Dekonstruktion. Nullerjahre und 10er – Stagnation und Verfestigung, doch was kommt jetzt?
Von der gefühlten Ausgangslage her zeigt sich, dass sich eine gewisse Differenzierung in der Sichtweise auf Konsum herauskristallisiert (hat). Gerade im Bereich der sich breiter aufstellenden ökologischen Mode kann man Klärung finden. Diese Klärung zeigt sich vor allem in einem Abgrenzungsprozess und einer Stärkung des Selbstverständnisses. Immer international agierende Marken sehen sich einer zunehmenden Konsumverdrossenheit gegenüber – Modemacher, die nicht bereit sind Wachstumsziele des Kapitals zu erfüllen, wollen sich in die Nische von nachhaltiger Mode retten und diese kommerzialisieren. Der Markt frisst alles und tarnt sich gerne – der Wolf im Schafsfell – hier bezeichnet als Greenwashing – wird in den kommenden Jahren wohl entlarvt werden und die Modebranche weiter in eine Sinnkrise zwängen. Kreativ werden sicher nur kleine Marken überleben. Der Massenmarkt, schnell wie er ist, wird sicher weiter existieren, aber von Mode wird man nicht mehr sprechen können, da das sich kleidende Individuum zu einer Illusion wird.
Auf vielen der kleinen Veranstaltungen und Diskussionen der Kreativen auf der Messe wurde über die Ansätze der vergangenen Jahre hinausgehend klar, dass ökologische Mode mehr ist als schadstoffarme Textilien und auch mehr sein muss. Ökologische Mode reicht schlicht nicht aus. Auch fair produzierte Mode ist nur ein nicht weit genug reichender Ansatz. In noch stärkerem Masse wird der Begriff des Gemeinwohls ins Zentrum rücken, da hier mit einer dem Gemeinwohl „verträglichen“ Mode noch weitere, soziale Aspekte einbezogen werden können. Neben fair, ökologisch, nachhaltig kann auch der gesamte Bereich der emotionalen Ausrichtung und der emotionalen Bedürfnisse berücksichtigt werden, wie zum Beispiel die Interaktion mit anderen und das visuelle Ausdrücken dieses Bedürfnisses, dass eine andere Art zu wirtschaften als notwendig erachtet wird.
Hier werden in den kommenden Jahren die modischen Konfliktlinien zu finden sein und die Abgrenzung stattfinden (müssen). Wenn Gesellschaft Entwicklung (nicht aber Fortschritt) möchte, wird sich auch der Berich Mode diesen Fragestellungen intensiver widmen müssen. Verantwortung wird eingefordert werden, über die gesamten Produktionsketten hinweg. Die ersten Schritte in diese Richtung sind real zu sehen. Während in Frankreich schon konkrete Regelungen für größere Firmen eingeführt wurden, wird hier in Deutschland noch zaghaft diskutiert, fürchtend, die Wirtschaft bloß nicht zu sehr zu belasten. In der abstrakten Gesamtschau, ähnlich der Mobilitätskrise, wird diese Sinnkrise in der Mode neue Strukturen herausbilden müssen.
Der Reigen an Ausstellern, die in Berlin zu sehen waren und vor allem die Diskussionen, die geführt werden, zeigen, dass der Umbruch gerade beginnt.