„Das schönste Gewerbe der Welt – Hinter den Kulissen der Modeindustrie“ von Giulia Mensitieri
Erschienen bei Matthes & Seitz, Berlin 2021
Text & Artikelbild: Boris Marberg
Im Umfeld der Pariser Modeszene hat die Anthropologin Giulia Mensitieri treffsicher und reflektiert die Modeindustrie unter die Lupe genommen. Dabei analysiert sie die Mechanismen der neoliberalen, kapitalistischen Denkweise mit ihren Ambivalenzen und wie sich diese in der Modeindustrie zeigen.
Das Buch ging aus Mensitieris Dissertation in den Fächern Sozialantropologie und Ethnologie bei Michel Agier und Jonathan Friedman hervor, erschien 2018 auf Französisch und liegt nun in einer Übersetzung ins Deutsche von Lena Müller vor.
Der Autorin gelingt es ihre persönlichen Erfahrungen in der Branche und die Erfahrungen ihrer Protagonisten auf anschauliche Weise lebhaft und nachvollziehbar darzustellen. Gleichzeitig bringt sie diese Erfahrungen in einen größeren Kontext. Dabei steht die Ambivalenz der Beziehungsgeflechte und das Wertesystem in der Modeindustrie im Vordergrund. Immer wieder arbeitet Giulia Mensitieri heraus, dass es Verhaftungen ideeller Art sind, die zu Abhängigkeiten, Zwängen und schlussendlich durchgängig zu einem Heer an prekär in der Branche arbeitenden Menschen führt. Das System „Mode“ bleibt dadurch am Laufen. Das perfide System von (Selbst-)Ausbeutung und Realitätsverlust verschiebt hierdurch den materiellen Erfolg hin zu den Konzernen. Motor dieser Entwicklung ist der Traum kreativ dabei zu sein und an einer Welt teilzuhaben, die eine Verheißung von Wohlstand und Prestige verspricht.
Dabei betrachtet die Autorin unterschiedliche Bereich der Mode. Sie beschäftigt sich mit der Haute Couture, der High-Fashion und den jeweiligen Differenzierungen im Luxussegment. Sie analysiert diese Industrie aus verschiedenen Blickwinkeln, zum Beispiel betrachtet sie die Näherinnen in den Ateliers der großen Häuser in Paris und kleiner Modehäuser, deren Belegschaften quasi nur aus unbezahlten Praktikanten bestehen. Daneben schaut sie Fotografen und Stylistinnen über die Schulter, die zwischen Luxushotel und Sozialwohnung pendeln. Neben diesen Personen stehen Modelle, welche ihre Schulden bei ihren Agenturen abarbeiten. Auf der anderen Seite skizziert sie die anonymen Kundinnen, deren einziger Lebensinhalt der Konsum und das Ausgeben von Geld ist, welches Ihre Ehemänner beispielsweise in der Finanzindustrie erwirtschaftet haben.
Immer wieder stellt Giulia Mensitieri klar, dass ihre Kritik sich gegen die ungebändigten Mechanismen des neoliberalen Kapitalismus richtet. Diese Mechanismen äussern sich ihrer Meinung nach in einem Weltbild des Sich-selbst-Aufopferns für eine vage Chance auf Luxus und Prestige. Hieran scheitern schlussendlich die meisten ihrer Protagonisten. Mensitieri arbeitet dabei konsequent viele Teilaspekte heraus, u.a. dass zu viele Modedesigner an den Hochschulen ausgebildet werden und der Markt diese Absolventen nicht in dieser Anzahl benötigt.
Einige wesentliche aktuelle Aspekte der Modeindustrie werden nur am Rande aufgegriffen. So werden die Mechanismen und die Dynamik der Fast-und Ultrafast Fashion des Volumenmarktes nur gestreift. Gerade dieses Segment hat grosse Auswirkungen auf die Umwelt und die sozialen Verwerfungen in der Produktion der Bekleidung. Ebenso kann das Buch noch nicht analysieren, in welcher Art die digitalen Medien und sozialen Netzwerke die Wahrnehmung von Luxus-Leitbildern und Luxuszwängen entfremden und Realitätswahrnehmungen verschieben (der Influencer). Alles ist beschleunigt und katalysiert. Hier bringt das Buch Gedanken ins Rollen, die weiterentwickelt werden müssten, um die Gesamtproblematik der Modeindustrie als Traumwelt und Traumfabrik aktuell zu verstehen. Das Werk der Autorin ist auf jeden Fall sehr empfehlenswert und schärft den Blick auf die Mechanismen dieser Industrie sowie auf das Leid, welches sich hinter den Kulissen findet.
(redigiert 27.5.)