Berlin Fashionweek AW2020, Neuzeit Ost
Bilder: Andreas Hofrichter
Text: Gerhard Paproth
Der Goodie-Bag bezeichnete sich schon vor der Schau als Materialrecycling, später in der Darbietung wies dann noch ein Pappschild auf „Ananasleder“ (ein Erntenebenprodukt) bei den Röcken hin – immerhin tut sich was bei der Entwurfskonzeption bei Marina Hoermanseder in Sachen Ökobewusstsein. Denn der erste Eindruck täuscht, wenn man die discomäßigen Teile, deren Oberflächen wie Kunststoffmaterialien aussehen, als dominierenden im Kopf behält. Laut Labelauskunft sind die verwendeten Leder „ausschließlich vegetabil gegerbt“ (schon immer) und die Färbungen mit GOTS-zertifizierten Pigmenten realisiert. Ein nachhaltiges Vollprogramm ist das freilich noch nicht, aber als bewusstseinsrelevant schon erwähnenswert, weil der meiste Oberflächenfunkel eben nicht nach nachhaltig aussieht.
Gegenüber den letzten Schauen war die gezeigte Kollektion jetzt wieder viel anspruchsvoller in den Erscheinungsbildern: Sweatshirts, Logoschals und ähnliche Streetwearteile tauchten nicht mehr auf. Die Konzentration auf geschmackvolle und experimentell reizvolle Kleidungsstücke war wieder das Wesentliche der Veranstaltung, mit einem Spektrum zwischen knapper Corsage und opulentem Abendkleid. Zu den Lederschnallen hat die Designerin noch nahezu unerschöpfliche Ideen, die jetzt auch wieder raffinierter ausgeführt werden und teilweise weniger aufdringlich als oft zuvor in Szene gesetzt sind. Auch die glitzernden Disco-Kleider mit L.A.-und-Las-Vegas-Taste, noch immer ein dominanter Anteil der Kollektion, haben zum Teil ungewöhnliche Gestaltungsmodifikationen durchlaufen, so dass der Touch des Billigen eingeschränkt oder ausgeschlossen wird. Dabei muss man allerdings zugeben, dass Marina Hoermanseder immer bemüht war, dieses Segment gestalterisch zu veredeln. Man denkt an Clubnacht-Outfits von Grace Jones (die waren natürlich noch exzentrischer) und überhaupt gibt es eine Reihe gestalterischer Rückgriffe auf die 80er und 90er Jahre, die ja auch die eigentlichen Discoclubjahre waren. Einfache Clubkleider hat Hoermanseder raffiniert geschnitten und effektvoll mit Applikationen versehen, manche Silhouetten sind spannend angelegt (z.B. oben weites Blouson, unten hautenger Rock), mit den festen Ledercorsagen hat sie kontrastierende Stücke verbunden, und die Bustiers werden jetzt teilweise mit darüber liegenden Transprenzen ergänzt. Das ist jeweils sehr gut gelungen, besonders da, wo die Designerin Schwarz inszeniert und die Riemen ein reizvolles Eigenleben entwickeln. Einschränkende Beobachtungen macht man aber auch: Zum Beispiel die Schnallenröcke haben jetzt oft nur eine Schauseite und sind hinten eher tragekomfortabel angelegt, solche Gestaltungslösungen erscheinen als ein unschöner Kompromiss zwischen Effekt und Pragmatismus.
Beruhigend ist neben der Konzentration auf gutes Niveau auch das Anliegen, die kaum tragbaren aber tollen „Rüstungen“ aus Leder immer wieder neu zu formulieren und vorzuführen, schon die Startfigur kam wie eine aufgemotzte Schlemmer-Figurine daher, hier mit Airbrush zu einem stilisierten Pythonkopf verwandelt. Ein anspruchsvolles Einleitungsstatement, viel mehr Varianten davon folgten zwar nicht, aber die spannend gemachten Ledercorsagen tauchten hie und da noch auf und belebten den dünnen Flitter in quasi vergewissernder Weise und geschmacksstabilisierend. Letzterer enthält, wie gewohnt, noch sehr viele Rosa-, Pink- und Lilatöne und viele weitere kitschige Anmutungen. Der Balanceakt zwischen ästhetischem Niveau und Pailettengeglitzer geht zwar manchmal, doch nicht immer zugunsten der Geschmackssouveränität aus. Die Entwurfskonzepte aus Marinas Märchen-, Disco- und Romantikland hatten schon immer ihre Tücken.
Im positiven Sinne entscheidend war aber der erwähnte Umstand, dass diese Schau die Anbiederung an den kommerziellen Streetwearbedarf mit den aufdringlichen Labelschriftzügen und anderen Billigkeiten außen vor gelassen hat und damit das geschmackliche Raffinement der Designerin wieder deutlicher herausstellte. Und der erwähnte Einzug ökologischer Experimente geht an keiner Stelle auf Kosten des guten und spezifischen Geschmacks, auch das nimmt man als vorteilhaftes Merkmal dieser – wie immer glänzend inszenierten – Schau mit.