Konzepte der Wettbewerber-Kollektionen
Text und Bilder: Gerhard Paproth
Visionäre Qualitäten sind vermutlich ein wesentlicher Gesichtspunkt, nach dem die Jury die Wettbewerber um den Grand Prix aussucht. Da es um Nachwuchsförderung geht, macht das viel Sinn, gelegentlich kommen aber auch Geschichten hinter den Kollektionen oder zeitgeistige Statements zum Zuge, wie das Siegerteam Rushemy Botter und Lisi Herrebrugh bewiesen.
Da die Konzepte sehr unterschiedliche Richtungen zeigten, habe wir uns nachfolgend bemüht, kurze Erläuterungen zu den vorgestellten Kollektionen zusammenzutragen, wie in dem Bericht zu den Défilés bereits angekündigt wurde und ein paar Extra-Bilder hinzugefügt.
Marie-Eve Lecavalier, Womenswear (COME GET TRIPPY WITH US), Kanada:
Marie-Eve Lecavalier liebt den Reiz subtiler Prints und Oberflächen. Leder erscheint bei vielen ihrer Arbeiten, sei es als Material an sich oder zu grafisch zerschnittenen und zusammengesetzten Mustern als Oberflächenstruktur. Gelegentlich verarbeitet sie auch recyceltes Material aus Second-Hand-Beständen. Stilistisch sucht sie klare und schlichte Formen, die sie ursprünglich aus Arbeitskleidung abgeleitet hat, also sehr Diesseitiges einerseits, andererseits Träumerisches, das sie als Kontrast oder Ambivalenz dagegen setzt. Die kontrastierende Mischung aus Sinnlichem, Einfachem, Funktionellem und Recycling stellt den Reiz der Erscheinung her, die letztlich durch große Klarheit bestimmt bleibt. Ihre Kollektion gewann den Prix Chloé.
Ester Manas, Womenswear (BIG AGAIN), Frankreich:
Ester Manas ist eine temperamentvolle Person und sie mag „echte Frauen“. Ein lustgeprägtes Körpergefühl ist Ausgangspunkt für ihre Kleidungsentwürfe und dabei spielen auch kräftigere Frauen eine deutliche Rolle. Sie läßt sich dabei wenig beeindrucken von subtiler Raffinesse, die für einen bestimmten Frauentyp bestimmt ist, sondern Materialien (z. B. Tüll) und Farben (von Weiß bis Rot) sollen für alle Frauentypen offen stehen, letztlich auch Schnitte, was man an den mutigen Gestaltungen für kräftige Frauentypen vorgeführt bekommt. Spaß hat die Designerin auch an direkter Bemalung der Stoffe, auch dies dick und kraftvoll und farbkräftig aufgetragen. Nicht immer überzeugen die unkonventionellen, zum Teil exzentrischen Designergebnisse, aber was überzeugt, ist die (Woll-)Lust und das physische Selbstbewusstsein, das sie alle transportieren und damit einen unbedingt positiven Beitrag zu feministisch-emanzipierten Bewegungen der Gegenwart darstellen.
Linda Kokkonen, Womenswear, Finnland:
Linda Kokkonen ist mit ihren Designs stark der Gothic-Szene verhaftet, etwas verwunschen, viktorianisch, vampiresk, romantisch 70iesmäßig. Rot und Schwarz sind die zentralen Farben. Viele der Gestaltungscodes übernimmt sie direkt, manche Experimente fügt sie hinzu. Die ganze Generation der Fashion Design Programme der Aalto Universität, wo sie studierte, liegt auf ähnlicher Linie. Besonders faszinierend erscheint die Auflösung der Oberflächen, die den Stücken eine eigene, ästhetische Charakteristik verleiht.
Jef Montes, Womenswear (TORMENTA), Niederlande:
Jef Montes hat schon auf der Amsterdamer Fashionweek 2016 ein Konzept vorgestellt, das eine (persönliche) Neuorientierung des Modemachens nach verbreiteten Parolen wie „Fashion is Dead“ darstellte. Einerseits dienten ihm ungewöhnliche, fließende Kunststoffmaterialien als gestalterische Startvorgaben, andererseits der Prozess der Auflösung und formalen/materiellen Transformation am Körper als Reiz. So spektakulär wie in der Amsterdam-Performance erscheinen die Stücke nun nicht mehr, geblieben und weitergeführt aber ist das Experiment mit den luftigen, futuristisch anmutenden Materialien und Gestaltungen, die auf sehr elegante Weise Erotik herstellen, ohne sich um Gegenwartsrealität zu scheren. Mutige, äußerst faszinierende und sehr sinnliche Visionen, die eine Gegenposition zur sampelnden Ratlosigkeit vieler Kollegen darstellen, Tech-Future als eine geschmacksverfeinerte Perspektive.
Ela Fidalgo, Womenswear (EATHWORK), Spanien:
Der Spanier Manijela Fidalgo liebt üppige Ausstattung, in jeder Hinsicht. Auch er ist ein Visionär, ein Utopist, der mit komplizierten Patchworkgestaltungen neue Ansätze einer Zukunft nach dem Nachhaltigkeitsproblem und übertriebenem Konsumismus zu gestalten sucht. Die voluminösen Silhouetten und die komplexen Zusammensetzungen erzeugen eine ungewohnte Pracht aus Recyclematerial, das ursprüngliche Banalitäten in ein Feuerwerk erneuerter Betrachtungsweise überführt. Zum Teil hergestellt auf Mallorca und von einem 45-köpfigen Workshopteam in unendlich detaillierter Handarbeit genäht, ist aus unzähligen kleinen Stoffresten ein Panoptikum schillernder Kleidungsstücke entstanden.
Antonina Sedakova, Menswear (COMMUNICATION TUBE), Russland:
Eher aus der Rückwärtswendung konzipert Antonina Sedakova ihre Kleidungsstücke. Aus den Erinnerungen und Vorstellungen der Sowjetrealität der 80er Jahre aus Jugendperspektive kollagiert sie aus einer Mixtur von Uniformteilen, Partyexzessen, Träumen und Ideencodes so etwas wie eine Retro-Neuaufage kultureller Versatzstücke im Postpunk-Stil, gebeamt in die Gegenwart. Das handwerklich grob Erscheinende, Derbe und Schmutzästhetik Zitierende führt zu einer bestechenden Schlüssigkeit im Konzept. Besonders die aufgenähten Schwarz-Weiß-Fotos geben den Stücken eine enorme Anziehungskraft. Die Kollektion steht für einen Aufbruch, der russische (Jugend-)Vergangenheit positiv zitiert und in eine gegenwärtige Ausrichtung transferiert. Dabei liegt die Gestalterin letztlich gar nicht weit weg von dem, wie westliche Partyszene-Designer ihre Kollektionen zusammensampeln.
Rushemy Botter, Menswear (FISH OR FIGHT), Niederlande:
Sie sind ein Team, Rushemy Botter und Lisi Herrebrugh, das sich einer sozialen Betrachtung verschrieben hat und daraus ein lebensfrohes Konzept entwickelt. Die gegenwärtige Kollektion erzählt mehr oder weniger eine Geschichte, nämlich der von karibischen Fischern, deren Lebensperspektive infrage steht, obwohl sie an einem der schönsten Orte der Welt leben. Versatzstücke dieser Vorstellung werden mit bunten, lebensfrohen Teilen verknüpft und das wiederum gesteigert bis zum karnevalesken Auftritt. In der Kombination wird konstruiert und dekonstruiert, Jacke kann auch Hose sein, kurz, lang, eng, weit – alles wird möglich und alles ist gleichzeitig und vervielfacht. Der Gesamteindruck führt einen großen Mix ins Feld, lieber zu viel als zu wenig. Leider bleibt darüber die ursprüngliche Geschichte eher auf der Strecke. Ein wenig pseudokritisch und „very instagrammable“ (iconist Welt) mutet das an, laut, bunt, schräg und vielschichtig – das war es wohl, was die Jury als zeitgeistgerecht ansah und damit des Grand Prix de la Jury für würdig befand.
Regina Weber, Womenswear (FLEUR INVADER), Deutschland:
Die deutsche Wettbewerberin Regina Weber verbindet High-Tech mit Natur. Sie arbeitete zum Beispiel mit Silikon bzw. ähnlichem Kunststoff, in den sie echte Blüten und Blätter eingoss und so eine sehr zartes und individuelles Material für Kleidung herstellte, das vernähbar ist: „Fleur Invader“. Der Moment der Vergänglichkeit scheint dabei auf, auch die Applikationen und die Farbgebung von Rosa über Gelb zu Lindgrün wirken eher zart und verhalten – stets bleibt ein romantisierender Bezug zu Natur gegenwärtig, manchmal mit leicht mahnendem Touch.
Anna Isoniemi, Womenswear (RACING STRIPES), Finnland:
Die Designerin Anna Isoniemi hat sich den schillernden Oberflächen verschrieben und gewissermaßen die Diskomaterialien der 60er (Geoffrey Beene Collection ) und 80er Jahre zeitgemäß fortentwickelt. Inspiriert fühlte sie sich mit der gegenwärtigen Kollektion außerdem von Autorennen und den spezifischen Designelementen, die man dort antrifft. Dynamik und Geschwindigkeit sowie strenge Kraft sind Qualitäten, die sie in der Frauenmode sichtbar machen will, um damit der Frauenpower eine optische Positionierung hinzuzufügen. Obwohl dieses futuristisch anmutende Design eher visionären Impact hat, versucht die Modemacherin es so anzulegen, dass es auch alltagstauglich tragbar ist.
Sarah Bruylant, Womenswear (MEET ME IN ANOTHER WORLD), Belgien:
Sarah Bruylant hat den Prix Publique in Hyères gewonnen. Obwohl sie Gegenwartstrends und Üblichkeiten ignoriert und ihre Sachen aus der eigenen Fantasie und Traumwelt entwickelt, hat dem Publikum wohl dieser Zauber aus Emotion und Gefühl besonders gefallen. Mit dem Pinsel und Acrylfarben trägt sie die pointillistischen Muster auf Stoffe auf, auch auf feste Materialien. Sie sucht den direkten Bezug zwischen Kleid und Trägerin, so sind die Formen und Farben wie angefügt, was den leicht märchenhaften Charakter der Kollektion begründet. Unsere erste Assoziation war Alice im Wunderland und es erschien uns beruhigend, dass sich solche Positionierungen auch heute noch als Faszinosum behaupten können.